Beethovens Missa solemnis aus Sicht des musikalischen Leiters
Beethoven komponierte das Spätwerk vor der 9. Sinfonie und gleichzeitig mit den drei späten Klaviersonaten op. 109, 110 und 111 in den Jahren 1819 bis 1823. Die Messe ist seinem Freund, Schüler und Mäzen Erzherzog Rudolph von Österreich (1788–1831) gewidmet, anlässlich der Inthronisation zum Erzbischof von Olmütz am 9. März 1820. Die Fertigstellung des Werkes nahm dann allerdings drei Jahre mehr in Anspruch als vorgesehen. Am 19.3.1823 überreichte Beethoven die fertige Partitur dem Erzherzog. Allerdings hatte sich die Beziehung der beiden in der Zwischenzeit merklich abgekühlt, sodass die berühmte Widmung «Von Herzen – Möge es wieder – zu Herzen gehen» nur im Autograph zu sehen ist.
Die Erstaufführung fand ein Jahr später, am 7. April 1824, in St. Petersburg statt. Die Rezeption war durchaus gemischt; Beethovens Einschätzung, dass es sich um das «gelungenste meiner Geistes-Produkte» handle, wurde von den Zeitgenossen nur bedingt geteilt. Manche hielten die Musik zu futuristisch, zu kompliziert, zu schwierig, zu monströs in der Ausdehnung. So meinte etwa Ernst Woldemar 1828: «…dass er […] den unglücklichen, melancholischen, düsteren und verworrenen Grübeleien, welche dieser ausgezeichnete Kopf kurz vor seinem Tode ausbrütete, nicht nur den geringesten Geschmack abgewinnen kann, sondern dass ihm auch bei deren Anhörung nicht anders zu Mute ist, als ob er sich in einem Irrenhause befände, und dass er sie so noch in der Tat höchst abschreckend, geschmacklos und entsetzlich finden muss«. Sogar noch Theodor W. Adorno sprach 1964 von einem «verfremdeten Hauptwerk», von einer «Rätselfigur» und von der außerordentlichen Schwierigkeit, welche die Missa Solemnis schon dem einfachen Verständnis entgegensetzt.»
Hören wir aber zunächst, was Beethoven selber während des Kompositionsprozesses umgetrieben hat: Eine Stelle aus seinen Tagebüchern jener Jahre lautet: «Geist der Geister die durch jeden Raum [und] durch die endlose Zeit dich verbreitend. Über die Schranken des emporkämpfenden Gedankens erhaben. Dem Aufruhr befiehlst Du zur schönen Ordnung zu werden. Ehe Himmel waren, warst Du. Ehe Sphären unter und über uns rollten, ehe die Erde im himmlischen Aether schwamm, warst Du allein.». Und etwas später findet sich im Tagebuch der Satz: «Zeit findet durchaus bey Gott nicht statt.» Man kann also in vielerlei Hinsicht sagen, dass Beethoven mit der Missa solemnis mystische Science-Fiction komponiert und sich mit den letzten Dingen beschäftigt hat, wodurch die Musik aus dem zeitgenössischen Kontext titanenhaft herausragt, indem sie älteste Traditionen mit modernster Tonalität verbindet; gleichsam einen erratischen Block darstellt, der von jeder Generation neu bezwungen werden will. Zwar springt einen die oftmals sperrige Klangwelt nicht immer unmittelbar an; wer sich aber auf das intensive Erleben einlässt, kann musikalische Ausblicke allerersten Ranges erwarten, die in ihrer Vielfältigkeit ihresgleichen suchen.
Im Kyrie bringt Beethoven die Zeitlosigkeit der Ewigkeit durch sehr gravitätische, langgezogene Akkordblöcke zum Ausdruck, man meint Franz Schubert zu hören. Die himmelsstürmende Motivik des Gloria bildet dazu einen belebenden Kontrast. Das «Qui tollis» ist untypischerweise sehr harmonisch und bringt die Liebe Jesus Christus zum Erklingen. Das monumentale «Qui sedes ad dexteram Patris» kontrastiert zum melancholischen, von Beethoven selbst eingefügten «Ah miserere». Die folgenden ekstatischen Fugen zeigen Beethovens Rückgriff auf barocke Strukturen, um die jubilierenden Engel musikalisch zum Ausdruck zu bringen. Dazu kontrastierend folgen klassische Unisolo-Passagen und homophone Akkordblöcke, die zügellos zum Schlussakkord voranpreschen, um dabei wieder auf Elemente des «Sturm und Drang» zurückzugreifen. Das Credo wirkt ungemein extrovertiert. Immer wieder erklingt das Wort «Credo», gleichsam als Mantra, als meditatives Muster. Eher nebensächlich erscheint die Geburt Jesu im «Et incarnatus est»; das folgende, im Messetext zentrale «Et homo factus est» ist selten schlicht gehalten, gleichsam romantisch naiv. Höchst dramatisch ist das «Cruzifixus» vertont, das «passus et sepultus est» ist dermassen düster, als wollte es die Spätromantik vorwegnehmen; geradezu sarkastisch im Mahler’schen Sinn ist hier die Begleitung, die die gebrochene Musiksprache der Moderne erahnen lässt. Triumphal und harmonisch modal angelegt, mit kriegerischem Duktus ertönt das «Et ressurexit», die folgende Fuge «Et vitam venturis» gehört zum Modernsten, was Beethoven je geschrieben hat; ständig wechselt die an sich bereits chromatisierte Harmonik, als wollte Beethoven die unendlich komplexe, verschränkte Mechanik des Weltalls darstellen. Das «Sanctus» ist ganz «piano» gehalten und wirkt dadurch geisterhaft romantisch, hier liess sich Robert Schumann für seine eigene Messe inspirieren. Das «Benedictus» in seiner schwebenden Statik eröffnet transzendente Klangwelten, die wenige Jahre später von Richard Wagner durchwebt wurden. Untypisch das folgende Violinsolo, hier erhebt sich die Stimme des Individuellen, um aus dem Chor der Gemeinschaft herauszutreten. Im «Agnus» greift Beethoven das bereits im Gloria angetönte melancholische «Miserere» wieder auf, um im befreienden «Dona nobis pacem» zu münden. Dann vollzieht sich eine ungewöhnliche Wandlung: das leidende Lamm Gottes verwandelt sich in ein kriegerisches Lamm; hier wird der wiederkehrende Christus der Offenbarung als triumphierender Richter und Retter erhoben.
In unserer Fassung transponieren wir die Musik von D-Dur nach C-Dur, um Beethoven etwas entspannter singen zu können. Die reduzierte Orchesterfassung erleichtert die Durchhörbarkeit und betont eher die Polyphonie als die Klangwucht der Musik. Vom Tempo her orientieren wir uns eher an der romantischen Beethoven-Tradition eines Bruno Walters als an den überhasteten modernen Interpretationen.
Stefan Müller
Missa solemnis, Anfang des Kyrie, Autograph mit der Widmung «Von Herzen — Möge es wieder — Zu Herzen gehn!» und der Vortragsbezeichnung «Mit Andacht»